"Ich weiß, wer du bist."


Monika Neve
: Wieso?

Wirtschaftsoberschule und Waldorfschule

Willi Seiß: Wir erhielten, wenn wir auf Fahrt waren, stets Zigaretten in Tropenpackungen zu je 100 Stück. Ich war Nichtraucher. Einen Teil sandte ich meinem Bruder nach Afrika, der dort in Kriegsgefangenschaft war. Den anderen Teil tauschte ich ein. Die Menschen heute, die diese Zeiten nicht erlebten, können es sich gar nicht vorstellen. Es gab ja nichts mehr, weder in den letzten Kriegsmonaten, noch nach dem Krieg. Heute leben wir in jeder Hinsicht in einer Phase der Überfütterung. Aber zu Ihrer Frage:

Wir lagen in Kiel mit unserem Boot zur Reparatur in einem Bunker. Als ich eben von Bord kam, ging ein russischer Gefangener, der auf der Werft arbeitete, dicht an mir vorbei und blickte mich dabei an. In seinen Augen sah ich die Frage:
Hast du was für uns? Wir begegneten uns wieder und er sagte nur: „Zigaretten?" So kamen wir überein, dass ich diese Russen mit meinen Zigaretten versorgte. Die hatten Geld aus ihrer, wenn auch knappen, Entlohnung, ich das, was sie nicht bekommen konnten. Der Tauschkurs war damals, wie auch nach dem Kriege auf dem Schwarzmarkt, fünf Reichsmark gleich eine Zigarette. Zigaretten waren Zahlungsmittel. So hatte ich eine Tasche mit Scheinen so (zeigt) dick. Damit finanzierte ich dann die Schule, die Wirtschaftsoberschule in Stuttgart.

Dort erfolgte mein nächster Lebenseinschnitt. - Unser dortiger Lehrer in Steno und Maschinenschreiben gab in der Regel zehn Minuten lang Unterricht und dann folgte ein Vortrag über erkenntnistheoretische Probleme, über Wahrnehmung, Denken, Bewusstsein usw. Dies war für mich alles neu. Ich frug wieder, wie kommt es, dass einer so denken kann, wie der Nietzsche?

Monika Neve: Eine Zwischenfrage: Sie hatten doch Jahre hinter sich, wo Sie trotz Ihrer Jugend Ihren "Mann stehen mussten". Ist das schwierig für Sie gewesen, nun wieder in die Rolle eines Schülers zurückzukehren?

Willi Seiß: Überhaupt nicht. Ich wollte lernen. Das geht schon daraus hervor, dass ich mir an Bord Bücher gekauft hatte, um später einmal Physik studieren zu können. Und wenn ich „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" gehabt hätte, dann hätte ich alles, was darin steht, schon mit 15 geschafft. Denn ich hatte einen starken Willen und eine außergewöhnliche Konzentrationskraft. Und so habe ich in meiner Freizeit aus Büchern heraus Physik studiert. Es war in mir einfach der Drang, mich weiterzuentwickeln.

Monika Neve: Also dieser erwähnte Lehrer hatte vor den Schülern erkenntnistheoretische Probleme ausgebreitet …

Willi Seiß: … und mein Freund und ich meinten, wir müssten doch herausfinden, woher der das hat und kann. Wir erfuhren bald, der Lehrer sei Anthroposoph. Damals hörte ich dieses Wort zum ersten Mal. So stellte ich ihm im Unterricht die Frage, was das sei, Anthroposophie. Er sagte, darüber möchte er nicht sprechen, es sei denn, wir würden darauf bestehen. Natürlich bestanden wir darauf. Nun fing er an, über Rudolf Steiner zu sprechen, aber wie das damals war, außerordentlich zurückhaltend, dass Rudolf Steiner eine Pädagogik entwickelt habe und es hier in Stuttgart eine Schule geben würde, die Waldorfschule, in der diese Pädagogik unterrichtet wird. Am nächsten Tag sagte ich zu meinem Freund: „Du, wir geh'n in diese Schule." Das Ziel, mit dem wir in die Wirtschaftsoberschule gegangen waren, trat völlig in den Hintergrund. - Wir gingen gemeinsam rauf in die Waldorfschule und wurden sofort von Dr. Schwebsch empfangen. Der fragte nur, was wir wollten. Und wir antworteten: Wir wollen hier an diese Schule. Wir haben etwas von Rudolf Steiner gehört, seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen und wie er über Goethe spricht. Das interessiert uns. - Darauf nahm uns Dr. Schwebsch sogleich in die Schule auf.