"Ich weiß, wer du bist."

Monika Neve: Wie erfolgte Ihre Suche nach einem geeigneten Haus weiter?

Willi Seiß: Am Tag meines Geburtstages kam eine Anzeige, noch in der damaligen Zeitschrift "Die Kommenden", es sei ein Heim am Bodensee bei Überlingen zu vermieten. Ich rief dort sogleich an. Es konnte mir nur gesagt werden, dass der Eigentümer ein Herr Fraats in Schorndorf bei Stuttgart sei. Am folgenden Tag waren wir dort. Da stellte sich heraus, dass das Heim nur von den Deutschen Edelstahlwerken (DEW) in Krefeld gemietet werden konnte. Diese hatten das Haus in Brachenreuthe, nördlich von Überlingen, als Erholungsheim für Arbeiterkinder betrieben. Die Miete mit DM 600,-- war für damals und für uns arme Leute hoch, was Fraatz veranlasste, die DEW in Haftung zu lassen. Die DEW waren ihm sicherer als wir. Also fuhr ich nach Krefeld, um Brachenreuthe zu mieten. Ich hatte dort mit drei Herren  der Direktion ein dreistündiges Gespräch über meine-Absicht. In meiner inneren Sicherheit über mein Vorhaben und der dargestellten Notwendigkeit, für gelähmte Kinder das Haus anzumieten, wurde mir die gesamte Einrichtung, Betten, Wäsche, Küchengeräte von den DEW geschenkt. Also, ohne diese großzügige Schenkung und Hilfe eines deutschen Stahlunternehmens wäre es sehr schwer geworden, Brachenreuthe zu dem zu machen, was es - wenn auch jetzt einem anderen Impuls folgend - geworden ist.

Als zweites kommt hinzu, dass ich ohne Schwierigkeiten, obwohl ich nicht ausgebildeter Lehrer war, vom Innenministerium in Freiburg, die Führungs- und Lehrerlaubnis für dieses Heim bekam sowie ohne jegliche Schwierigkeiten vom Gesundheisamt in Überlingen die Erlaubnis, dieses Heim für gelähmte Kinder zu führen.

Monika Neve: Das sind ja ausgesprochen günstige Umstände gewesen!

Willi Seiß: Ich habe ja angedeutet, worin diese "günstigen Umstände" lagen. Von Anfang an wusste ich, dass es gelingen würde, ein Heim für diese heilpädagogische Arbeit zu schaffen.

Monika Neve: Also nicht „günstige Umstände", sondern konkrete Hilfe aus der geistigen Welt?

Willi Seiß: Ohne diese wäre es nicht gegangen. - Aber geistige Hilfen sind immer darauf angewiesen, wahrgenommen zu werden, gleich wie, und dann einen Menschen zu finden, der bereit und fähig ist, einen Impuls umzusetzen. Dort liegt immer die Schwierigkeit.

Ich machte dann die Satzung für einen "Verein für bewegungsgestörte und sprachbehinderte Kinder und Jugendliche", und dann haben wir in Brachenreuthe mit dieser Einrichtung begonnen.

Monika Neve: Inzwischen gibt es ja viele anthroposophisch initiierte Heilpädagogische Einrichtungen hier am Bodensee.

Willi Seiß: Damals nicht, mit Ausnahme der zwei Heime auf der Höri, den Michaelshof und dem Heim in Gaienhofen von Garvelmann.

Monika Neve: Und dann haben Sie in Brachenreuthe angefangen?

Willi Seiß: Zusammen mit meiner Frau.

Monika Neve: Sie zwei alleine? Haben Sie denn keine weiteren Hilfen gehabt?

Willi Seiß: Wir hatten noch einen jungen Mann als Gärtner und eine ältere Mitarbeiterin für einige Monate zur Hilfe. - Und dann kommt die Tragik. Karl König schickte uns Erika Sauter, die kam hierher und sagte, sie sei herzkrank und könne keine Kinder übernehmen. Aber ihre Aufgabe wäre es, „den Geist von Camphill hier zu inkarnieren". Da machte ich einen Fehler. Ich hätte ihr eine Fahrkarte kaufen sollen und sagen: „Du kannst hier eine Nacht schlafen und morgen früh fährst du dahin zurück, woher du gekommen bist." - Warum machte ich diesen Fehler, kann man sich fragen. In der Rückschau sind es zwei Gründe: einmal, weil ich jeder Situation oder Menschen stets als erstes Vertrauen entgegenbringe. Auch bei Erika Sauter, der jetzigen Frau von Arnim, war das so. Ich rechne mit der Zeit, der Einsicht, dem Wachsen in der Verständigung. Dazu muss natürlich in der anderen Seele ein Boden vorhanden sein: wenigstens die Grundlage von Positivität und Unbefangenheit. Das ist das Eine. Der zweite Grund liegt in der geistigen Führung und meiner vorgeburtlich bestimmten Aufgabe. Ich habe, wo es geht, die Bedingungen zu schaffen. Was die Menschen dann damit machen, ist nicht mehr meine Sache. Zudem wäre es mir nicht möglich geworden, meine geistigen Fähigkeiten innerhalb der Camphill-Gemeinschaft mit ihrer hierarchischen Struktur so zu entwickeln, wie dies in meinem Erdenleben angelegt und weiter entfaltet werden konnte. Aber das nur nebenbei.