"Ich weiß, wer du bist."

Monika Neve: Ist das nicht eine ziemliche Anmaßung, erwachsene Menschen zu maßregeln und wie Unmündige zu behandeln? Es war ja scheinbar keine allgemeine Anordnung, der sich alle zu fügen gehabt hätten?

Willi Seiß: Das ist eben in Camphill so gewesen. Da gab es eine bestimmte Gruppe, die - sagen wir mal - die Aufgabe hatte zu beten, während den anderen die Arbeit oblag. Das war das Prinzip und hat sich ziemlich erhalten. Am Abend darauf hatte ich ein langes Gespräch mit Dr. König. Es verlief so, dass ich ihm sagte, dass ich Camphill verlassen werde. Darauf sagte er, dass er mir dasselbe auch geraten hätte. Und in diesem Gespräch sagte er zu mir, er wisse,  wer ich wäre: „Ich weiß, wer du bist.“

Monika Neve: Aus eigenem Vermögen?

Willi Seiß: Ich nehme es an. Denn wer mich ohne Vorurteile sieht, kann an mir, meiner Art, meiner Lebenseinstellung, insbesondere meiner Arbeiten einige meiner Inkarnationen fast mit Händen greifen. Da braucht man nicht hellsichtig zu sein. - König sprach dann später, als wir auch Brachenreuthe verließen, aus, dass ich sein Freund sei. Da nahm man dann mir wieder übel, dass mich König als Freund bezeichnete.

Monika Neve: Was haben Sie nach Camphill gemacht?

Willi Seiß: Ich ging nach Südengland, nach Devonshire in ein Heim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche. Dort war ich längere Zeit. Dann kehrte ich nach Deutschland zurück mit zwei Ideen: eine pastoralmedizinische Ausbildung im Seminar der Christengemeinschaft in Stuttgart zu machen und ein Heim in Deutschland für gelähmte Kinder zu gründen. - Die erste erlebte ich sehr schnell als eine Illusion. Die dortigen Erlebnisse und Gespräche mit Göbel, Husemann und Bock seien hier inhaltlich besser nicht erwähnt. Als ich diese Illusion erkannte, öffnete sich mir eines der Chakren in einer Fülle von Licht, Kraft und Erkenntnis. - Die zweite Idee realisierten wir, meine Frau und ich, am Bodensee.

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„Camphill war in Deutschland nicht vertreten. Die Anthroposophische Gesellschaft in ihrer unendlichen Streiterei, mit dein Ausschluss vieler Mitglieder, auch von Dr. König, machten es ihm unmöglich, von sich aus in Deutschland einen Start mit einem Heim zu versuchen."
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Monika Neve: Wie ging Ihr Leben dann konkret weiter?

Willi Seiß: Es ist in diesem Leben interessant, wie innerhalb von Lebensabschnitten Ereignisse eintreten, die in diesem wie Vorzeichen für spätere Aufgaben stehen. Ich muss wegen der Fülle etwas raffen. Jetzt arbeitete ich für technische Entwicklungen in einer Firma, in der wir Änderungen an Hinterachsen für LKWs so vornahmen, dass ein solches Fahrzeug sich mit eigener Kraft aus jedem Schlammloch ziehen konnte. Hier spielten die Erfahrungen im Russlandfeldzug eine Rolle, in dem Fahrzeuge einfach im Dreck stecken blieben. Kurz: wir nahmen die Hinterachswellen heraus, drehten mit einem geeigneten Stahl eine verlängerte Achswelle, versahen die Radnabe mit einem Zahnkranz, der jetzt die Verbindung zur Welle mittels einem Zahnring übernahm. Durch Lösen dieser Verbindung und Koppelung eines Spills, wie er auf Schiffen verwendet wird, oder mit einer Seilwind, jetzt mit der Achswelle, war der LKW-Antrieb unterbrochen, aber mit einer Vorrichtung versehen, mit der er sich aus jedem Loch herausziehen konnte. Wir führten dies bei den führenden LKW-Herstellern in Stuttgart und Ulm vor, aber auch beim damaligen im Aufbau befindlichen Bundesgrenzschutz. Die Leute staunten nur, wie sich ein LKW aus einem Granattrichter von nahezu 50 Grad Neigung ohne fremde Hilfe herauszog. Ein anderer Fall war, dass wir einen LKW mit Langholz beladen eine Sprungschanze hochfuhren. Diese Vorführung war für die Feuerwehr. Wir hofften, die Fahrzeuge der Bundeswehr damit ausrüsten zu können. Aber das Geschäft machte eine andere Firma mit einer anderen Konstruktion. Wir hatten zu viel investiert. So suchte ich eine andere Tätigkeit. Mein Ziel war immer noch, einmal ein Heim für gelähmte Kinder zu haben.