"Ich weiß, wer du bist."

In der heilpädagogischen Arbeit hatte ich eine besonders starke Beziehung zu den spastisch gelähmten Kindern. Dr. König war für Besucher, die besondere Heilmethoden entwickelt hatten, stets offen. Ihm lag daran, Wege zu finden, wie diesen Kindern geholfen werden könne. So brachte er mich damals immer wieder in Verbindung zu solchen Besuchern. Wir kamen mit keiner dieser angebotenen Methoden weiter. Ich hatte eine andere Methode. Sie bestand darin, dass ich die Lähmung eines Kindes in mich aufnahm und aus der inneren Bewegung meines Ätherleibes diesen Bann löste. So wurde ein Kind – wenn auch nur für kurze Zeit – frei von dieser Fessel. Es hatte wenigstens ein Mal erlebt, was man normal oder gesund nennt. Ich hatte Dr. König gegenüber nur ein Mal an einem besonders behinderten und wilden Kind diese Methode dargestellt, wie ich dieses zu einer Ruhe in seinem Körper brachte. Er reagierte ungewöhnlich stark mit den Worten: Ich hab's. Er versuchte damals aus dieser Erkenntnis, die ihm wurde, eine allgemein anwendbare Methode zu entwickeln, die er allerdings auf eine Konstellationssituation bei der Geburt des Kindes bauen musste. Ob sich dies weiter durchsetzte, weiß ich nicht.

Noch ein Beispiel will ich erwähnen, weil es gleichfalls einen Hinweis geben könnte, was eigentlich bei diesen kranken Kindern vorliegt. Ich hatte einen kleinen Jungen, den Barry, zu betreuen. Er konnte sich nur wie ein Frosch über den Boden ziehen. Er tat mir einfach leid. Da sagte ich ihm eines Tages: Barry, steh mal auf, steh hin. Er schaute mich lieb an und sagte: „Willi, ich kann das nicht.- Ich sagte: „Du kannst das, du musst das nur wollen." Ich ging mit meinen Willen in ihn und sagte: "Du stellst dich jetzt hin." Er schaute mich an und begann sieh aufzurichten. So hielt ich ihn über seinen Willen und sagte ihm: „Siehst du, du kannst das, du musst es nur wollen." Darauf nahm ich meinen Willen zurück und Barry setzte sich in seine ihm mögliche Haltung zurück. Für mich genügte, dass dieses Kind wenigstens einmal das Erlebnis hatte, die Aufrichtekraft in sich erlebt zu haben.

Monika Neve: Also darauf kam es Ihnen an, dass er diese erlebt, nicht, dass er nachher aus eigenem Vermögen stehen kann?

Willi Seiß: Das wird man nicht schaffen. Da müsste man das Karma von diesen Kindern kennen und müsste dort ansetzen, um dieses Karma auszugleichen. Entweder so, dass man selbst aus diesem Karma etwas auf sich nimmt oder so, dass man Wege sucht, es ihm karmisch zu erleichtern, mit seiner Körperlichkeit zurechtkommen.

Monika Neve: Also Ihr Wunsch, mit gelähmten Kindern zu arbeiten, resulierte in erster Linie aus Ihrer Erfahrung, dass Sie gelähmten Kindern wenigstens zu bestimmten Erlebnissen der Aufrichtekraft verhelfen können?

Willi Seiß: Ja. Man kann da medizinisch nicht helfen. Das hat auch Dr. König erfahren bei seinem Versuch, den er aus der goetheanistischen Methodik ableitete. Hier ist konkrete Karmaerkenntnis gefragt und dann die christliche Methode, die die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Organe beim Heilerzieher voraussetzt. Das wird aber nicht gelehrt und geschult. Die Gründe dafür will ich hier nicht behandeln.

Monika Neve: Aus welchen Gründen sind Sie von dort weggegangen?

Willi Seiß: Nun. ich hatte dort einen Freund, einen jugoslawischen Arzt, den ich leider aus den Augen verlor. Wir unterhielten uns viel über die „Philosophie der Freiheit". Eines Abends saßen wir bis spät in der Küche von Camphill-House und sprachen über ein bestimmtes philosophisches Problem. Da huschte spähend eine Gestalt am Küchenfenster vorbei, die spätere Frau Müller Wiedemann. Da kam sie also nachts nach 24 Uhr in die Küche und herrschte uns an, ob wir nicht wüssten, dass man in Camphill vor Mitternacht im Bett sein müsste. Wir schwiegen beide und setzten danach unser Gespräch fort. Nach zehn Minuten kam sie wieder um uns zu fragen, weshalb wir noch nicht im Bett wären. Da frug ich: „Susi, warum sind Sie noch nicht im Bett? Sie wissen doch, dass man in Camphill vor Mitternacht im Bett sein muss?" Sie konnte nur antworten, dass sie sich über mich bei Dr. König beschweren würde. Ich meinte, das würde ich über sie gleichfalls machen.