Was ist Hermetismus?

Selbstverständlich gibt es jedoch auch falsch aufgefasste Arten von Intuition. Problematisch kann es werden, wenn ein Schüler die Klarheit des Denkens auf seinem Weg nicht mit einbezieht, und seine Intuitionen und Handlungen nicht zu verstehen versucht. Früher oder später wird sich in diesem Fall eine Einseitigkeit manifestieren, die es auszugleichen gilt. Ein anderes Missverständnis wäre die Meinung, dass der Hermetismus bestimmte Handlungsweisen lehren würde. Der Hermetismus lehrt jedoch nicht festgelegte Inhalte von Handlungen, sondern die Leerheit des Willens. Es ist dann dem Individuum überlassen, seine Aufgaben in der Auseinandersetzung und Umsetzung der ihn berührenden Intuitionen zu gestalten.

Die intuitive Berührung mit einem Impuls, die für den Schüler der Hermetik am Anfang steht, wird durch das I. Arcanum thematisiert („Der Gaukler“). Dies setzt einerseits eine Offenheit des Herzens voraus, um einen solchen Impuls überhaupt wahrnehmen zu können. Des Weiteren ist es aber auch wichtig entscheiden zu können, welche Impulse überhaupt „wahrhaft“ sind und ob es sich lohnt, ihnen zu folgen. Die unmittelbare Berührung des Impulses kann sich also in Form von Erkenntnisklarheit spiegeln (II. Arcanum, „Die Päpstin“). Eine Erkenntnis auf dieser visionären Stufe besitzt aber auch eine unmittelbare Kraft, die zur Handlung motiviert. Das Umsetzen einer entsprechenden Handlung wird durch das III. Arcanum thematisiert („Die Kaiserin“). Sowohl die unmittelbare Berührung, als auch die erste visionäre Erkenntnis, als drittens auch die Umsetzung des Impulses in Taten bringen jeweils Erkenntnisse verschiedener Art mit sich. Denn auch beim Umsetzen einer Intuition in Taten werden die ursprünglichen Impulse immer umfassender verstanden. Wenn ein solches umfassendes Verständnis dann mit den Gedanken und Lehren einer Kultur in Relation gesetzt wird, kann anderen Teilnehmern dieser Kultur die nun umfassend geläuterte Weisheit in Form von hermetischer Philosophie vermittelt werden (IV. Arcanum, „Der Kaiser“).

Diese vier Stufen – spirituelle Berührung, unmittelbare Erkenntnis, magische Handlung und Vermitteln der dreifach erprobten Wahrheiten durch hermetische Philosophie – werden einerseits von einem spirituellen Impuls innerhalb eines einzigen Menschen durchlaufen. Die gleichen vier Stufen können andererseits aber auch Schwerpunkte von Traditionen sein, zu denen sich Menschen zusammenschließen. So gibt es Traditionen, die beispielsweise insbesondere den Kultus oder andere, welche die Philosophie pflegen. Der Kultus entspricht hierbei der hermetischen Stufe der magischen Handlung (III. Arcanum), und die Philosophie der vierten Stufe (IV. Arcanum).

Leider gibt es eine gewisse Tendenz, dass solche Schwerpunkte im Laufe der Zeit aus ihrem organischen Zusammenhang der vier Stufen herausgelöst werden. So hatte beispielsweise schon die griechische „hermetische Philosophie“ (z.B. Philo) den Bezug zu den ersten Stufen verloren. Das dort gepflegte Gedankenleben ist also schon nicht mehr der unmittelbaren und bewussten Berührung der geistigen Welt entsprungen, und die Inhalte der Gedanken wurden auch schon nicht mehr in der Handlung erprobt bevor sie mitgeteilt wurden. Dadurch lassen sich gewisse Einseitigkeiten erklären. In anderen Traditionen wurde beispielsweise die „magische Handlung“ im Sinne eines Kultus gepflegt, ohne jedoch ein lebendiges, geistiges Wissen von deren Bedeutung und der Wirkung der Handlungen zu besitzen (z.B. die Freimaurer). Auch wenn von Menschengruppen („Traditionen“) naturgemäß Schwerpunkte gesetzt werden, der Bezug zu der Gesamtheit der vier Stufen geistigen Lebens muss aufrecht erhalten werden, wenn die Tradition gesund und lebensvoll bleiben soll.