Was ist Hermetismus?

„Er [der Hermetismus] lebt nur von der Intuition und ist ohne sie tot. Und diese tote Angelegenheit erkannten die Vertreter des Glaubens und der Wissenschaft, die aufrichtig staunten, dass es Leute gibt, die sie ernst nehmen. Sie sahen darin nur wissenschaftliches und religiöses Flittergold – oder höchstens einen schwachen Glauben, der sich Krücken von der Wissenschaft leiht, oder auch eine kindliche Wissenschaft, die noch nicht die Unterscheidung gelernt hat zwischen dem, was man glaubt und dem, was man weiß. Und sie täuschen sich nicht: der Hermetismus ist ohne den unsichtbaren Zement der Intuition in der Tat nur eine improvisierte Zusammenfügung heterogener Elemente der Wissenschaft und der Religion.“ (19. Brief, „Die Sonne“; „Meditationen über die Großen Arcana des Taro“, Meisenheim am Glan 1972, S. 430)

Weil die reale Tat und die ihr vorangehende Intuition in der Hermetik so bedeutsam sind, ist die Darstellungsform hermetischer Inhalte primär symbolisch. Es wird weniger versucht, definierte Aspekte isolierter Tatsachen möglichst eindeutig „festzunageln“ (wie dies in der Wissenschaft typischerweise üblich ist), sondern die Komplexität und Vielschichtigkeit der wirklichen, lebendigen Zusammenhänge werden anhand der äußeren Form der Lehren mit dargestellt. Indem komplexe Zusammenhänge auf wesentliche Punkte reduziert symbolisch dargestellt werden, kann der Betrachter – je nach seiner Reife und Situation – ganz unterschiedliche und vielleicht auch kreativ neue Zusammenhänge aus den Symbolen und deren Zusammenstellungen „herauslesen“. Und anhand beispielsweise des genialen Symbolsystems des Taro erlernt der Schüler gewissermaßen ein Alphabet an Symbolen; und er erlernt weiterhin, auch die Zusammenhänge seines eigenen Lebens symbolisch zu betrachten. Auch in Lebenszusammenhängen gibt es viele einfache Situationen, die – je nach Reife und Perspektive – in völlig anderen Weisen verstanden werden können. Aufgrund dieser Analogie von Symbol und Lebenssituation ermöglichen die symbolischen Darstellungen des Hermetismus einen relativ unmittelbaren Bezug zwischen Intuition und Tat.

Worin besteht die Natur einer Intuition und welchen Weg nimmt sie im Leben des Schülers? Manche Menschen haben Angst vor Intuitionen, weil sie so geheimnisvoll und mächtig seien, und weil sie uns zu etwas zwingen könnten, was wir nicht wollen würden. Genau das Gegenteil ist richtig: Intuitionen zwingen nie. Um sie empfangen zu können braucht es einen Bereich innerer Ruhe, in dem ein Schüler einen eintreffenden Impuls als solchen entdecken kann. Die Gefahr, dass ein moderner Mensch in der Unruhe unserer Kultur eine Intuition übersieht oder sogleich wieder vergisst, ist ungleich größer als dass er zu etwas gezwungen wird, was er nicht will. Was den Schüler „zwingt“ sind die dunklen Bestandteile seiner Persönlichkeit, also die ungeläuterten luziferischen und ahrimanischen Eigenschaften in ihm. Aber selbst solche Persönlichkeitsbestandteile zwingen genau genommen zu nichts: Der Schüler, der sich von solchen Impulsen seiner Doppelgänger noch nicht frei gemacht hat, empfindet entsprechende „Einflüsterungen“ aber als Zwang. Durch eine Realisation eines Raumes der inneren Ruhe in der Seele, welche der erste Schritt des Weges des christlichen Hermetismus ist („Konzentration ohne Anstrengung“), hat der Schüler jedoch auch einen ersten Schritt in Richtung Freiheit getan. Sobald ein Schüler innerlich diesen Ruheraum betreten kann, hat er nicht nur Distanz zu den alltäglichen Wirren seines Innenlebens gewonnen, er steht auch frei allen Impulsen gegenüber, die er nun „unbefangen“ beurteilen, aufnehmen oder abweisen kann. Auf der anderen Seite wird jemand, der gelernt hat das Gute zu lieben, wie selbstverständlich dem Guten folgen. Auch eine solche Selbstverständlichkeit ist aber natürlich kein Zwang.