Was ist Hermetismus?

An der Tatsache der Notwendigkeit einer Läuterung und Reifung der Persönlichkeit ist erkennbar, dass sich der lebendige Strom des Hermetismus zwar bei uns „unten“ auf der Erde befindet, dass er aber dennoch nicht ohne weiteres Jedermann zugänglich ist. Wer durch Erkenntnisse nicht dem Gang der Menschheit dienen, sondern wer alleine für sich Erkenntnisse ansammeln will, der ist in einem „subjektiven Nebel“ gefangen, welcher die Wahrnehmung verzerrt. Wahrheit im Sinne des Hermetismus besteht nicht in einem „Reichtum an schlauen Meinungen“, sondern in einer „Leerheit vom Subjektiven“, so dass eine unmittelbare Berührung mit dem Objektiven möglich werden kann. Die wahre Wirklichkeit soll nicht im Subjektiven abgebildet werden, sondern das Subjekt strebt an, sich der wahren Wirklichkeit zu öffnen. Erst wer durch Demut, Gehorsam und Liebe seine eigenwillige Sucht nach Erkenntnis zumindest Stellenweise bezwungen hat, dem lichtet sich der Nebel des so genannten luziferischen Lügengürtels und er wird die Hermetik in ihrer unverzerrten Gestalt erkennen können.

Wer in sich in diesem Sinn den Hochmut nicht wenigstens ansatzweise im Griff hat, wird durch den Hermetismus nicht zur Genialität, sondern zur Scharlatanerie geführt. Diese Zweideutigkeit findet sich beispielsweise im Arcanum I. „Der Gaukler“ angedeutet. Der Gaukler ist einerseits der geniale Herzensmensch, der mit Leichtigkeit von der Berührung mit der geistigen Welt getragen wird; aber er kann andererseits auch als Warnung vor uns stehen, wenn wir die Mühen der Läuterung vermeidend über eine falsch verstandene Leichtigkeit ein Scharlatan zu werden drohen.

Sobald der Schüler den hermetischen Strom innerlich berührt hat, wird eben dieser Strom ihn auch beschirmen und leiten. Den aufrichtig Strebenden wird diese Berührung beschenken. Und ein Teil dieses „Geschenkes“ ist es, die eigenen Schwächen klar vor Augen geführt zu bekommen, damit diese geläutert und bearbeitet werden können. Hier liegt es nun am Schüler, ob er dieses Angebot annimmt und an seinen Schwächen und Fehlern arbeitet. Dieselben Gesetze des lebendigen Stromes werden auf verschiedene Strebende – je nach ihrem eigenen Engagement - unterschiedlich wirken. Sehr wichtig ist es daher zu erkennen, dass der Strom der hermetischen Tradition auf diese Weise auf alle Fälle zur Wahrheit führt, es liegt aber in der Freiheit und Verantwortung des Schülers, wie er sich dieser Führung gegenüber verhält.

Die Lebendigkeit des hermetischen Stromes belebt den Schüler zunächst, und belebt hierbei notwendigerweise auch alle dunklen Triebe, die durch diese Belebung überhaupt erst erkennbar werden. Diese Schwächen müssen aber nicht nur erkannt, sondern auch überwunden werden. Die Meditationen zu den Arcana des Taro führen den Schüler also auf alle Fälle zur Wahrheit, wie schnell der Schüler jedoch voranschreitet liegt daran, zu welchem Maß der Selbsterkenntnis er fähig ist.

„Tote“ Weisheiten kann sich der Mensch aneignen und gemäß seiner Willkür benutzen. Der lebendige hermetische Strom wird den Schüler aber berühren und durch das Leben leiten, indem er ihn zu den für sein individuelles Leben notwendigen Erkenntnissen und Ereignissen führt. Die Gedankenformen des Hermetismus bleiben hierbei leer und unbrauchbar, wenn ein Schüler nicht fähig ist, die darin innewohnenden lebendigen Impulse aufzunehmen. Valentin Tomberg nennt diese hermetische Offenheit und Empfänglichkeit im Willen auch Glauben, durch den ein Schüler fähig wird, von Intuitionen berührt zu werden. Und indem ein Mensch hermetische Intuitionen empfangen kann, verbindet er sich mit dem Wirken der hermetischen Geister und wird auf diese Weise Hermetist. Valentin Tomberg drückt das selbst sehr klar aus: