Was ist Hermetismus?

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Eine Untersuchung der christlichen Hermetik Valentin Tombergs
im Licht der Initiationswissenschaft Rudolf Steiners

Sebastian Niklaus


I. Der lebendige Strom hermetischer Tradition

Jeder kennt die zentrale Wahrheit des Hermetismus:

   „Was oben ist, ist wie unten, und was unten ist, ist wie oben“.

    (aus der „Tabula Smaragdina“)

Was ist aber die charakteristische Eigenart des Hermetismus?

Diese Frage ist gar nicht leicht zu beantworten. Einerseits liegt das daran, dass viele Vorurteile dem Hermetismus gegenüber kursieren, die teilweise sogar berechtigt sind (denn verschiedene Missverständnisse haben tatsächlich eine ganze Reihe schillernder Gestalten hervorgebracht); andererseits gibt es aber auch sachliche Schwierigkeiten, denn der Hermetismus ist nur für solche Menschen klar erkennbar, die für das Verborgene offen sind. Er entzieht sich einem „bequemen“ Zugriff, solange man nicht gewillt ist, sich auf sein eigentliches Wesen einzulassen.

Die Wurzeln des Hermetismus liegen im alten Ägypten. Von diesen Anfängen wissen wir über die offizielle Geschichtsschreibung sehr wenig. Bekannte „hermetische“ Traktate – wie z.B. die des „Corpus Hermeticum“ – behandeln theologische und philosophische Fragestellungen, wie z.B. die Wiedergeburt und Vergöttlichung der Menschen durch Kenntnis von einem transzendenten Gott. Die philosophische Orientierung dieser Traktate ist jedoch nicht mehr ägyptisch, sondern griechisch. Die Griechen sahen eine enge Verbindung zwischen Hermes und dem ägyptischen Gott Thot.

Von Rudolf Steiner wissen wir, dass für die Menschen im alten Ägypten die instinktive, natürliche Verbindung zur geistigen Welt nur noch in ihren letzten Resten vorhanden war. Die Menschen hatten auf der anderen Seite aber schon die Fähigkeiten, die Keime des heranreifenden Verstandes auf die äußere Welt zu richten. In diesen Verhältnissen des Menschen zur physisch-sinnlichen und zur geistigen Welt liegt der Ursprung unserer modernen Kultur die – insbesondere über Griechenland – nach Europa getragen wurde. Rudolf Steiner erläutert das folgendermaßen:

„Dadurch, dass aus der physisch-sinnlichen Welt die Gesetze des hinter ihr stehenden Geistigen erforscht wurden, entstanden die menschlichen Wissenschaften; dadurch, dass die Kräfte dieser Welt erkannt und verarbeitet wurde, die menschliche Technik, die künstlerische Arbeit und deren Werkzeuge und Mittel“ („Geheimwissenschaft im Umriss“ GA 13, S. 283).
 

Diese ursprünglichen Wissenschaften und Künste haben sich zwar durch eine Beschäftigung mit der physisch-sinnlichen Welt herangebildet, die „Gesetze des hinter ihr stehenden Geistigen“ sind jedoch das eigentliche Ziel des Strebens. Die damaligen Menschen konnten durch eine entsprechende Beschäftigung mit der physisch-sinnlichen Welt ihre Seele so erziehen, dass sie ihre Seele für die nachtodliche geistige Welt vorbereiteten. In den Worten Rudolf Steiners:

„So konnte ihm [d.h. dem altägyptischen Volk] die geistige Welt nicht als diejenige gelehrt werden, in welche es sich auf der Erde einleben konnte. Dafür aber konnte ihm gezeigt werden, wie der Mensch im leibfreien Zustande nach dem Tode leben werde mit der Welt der Geister, welche während der Erdenzeit durch ihren Abdruck in dem Reiche des Sinnlich-Physischen erscheinen. Hermes lehrte: insoweit der Mensch seine Kräfte auf der Erde dazu verwendet, um in dieser nach den Absichten der geistigen Mächte zu wirken, macht er sich fähig, nach dem Tode mit diesen Mächten vereinigt zu sein“ („Geheimwissenschaft im Umriss“ GA 13, S. 284).

Der ursprüngliche Impuls aller menschlichen Wissenschaften und der künstlerischen Arbeit ist also ein geistiger und zielt darauf ab, in einer Bearbeitung der sinnlich-physischen Welt für die Seele Kräfte zu gewinnen, durch welche sie sich nach Ablauf des Erdenlebens auf eine „harmonische Weise“ mit der geistigen Welt verbinden konnte. Der Impuls der altägyptischen Hermetik liegt also „oben“, wobei die Seelen „unten“ lernen sollen, sich in Analogie des „Oben“ zu formen, um sich schließlich wieder mit dem diesem zu verbinden.

Hermes konnte diese Analogie von „Oben“ und „Unten“ lehren, weil er sowohl die Welt „oben“ als auch die Welt „unten“, sowie drittens auch die Relation beider zueinander wahrzunehmen fähig war. Das Kultivieren einer lebendigen Analogie von Erde und geistiger Welt ist für die damalige Zeit eine besondere Fähigkeit, aus der heraus der legendäre Hermes Trismegistos seine Schüler leitete. Vor dem Ereignis von Golgatha war zwar die endgültige Einheit von „Oben“ und „Unten“ noch nicht hergestellt, über lebendige Analogien wurde eine solche Verbindung aber in seiner Realisation vorbereitet.

Die Schüler des großen Hermes hatten ihre seelischen Kräfte des Denken, Fühlen und Wollens auf der Erde so zu läutern und zu gestalten, dass sie sich nach dem Tode mit dem Sonnenwesen vereinigen konnten. Dieses Sonnenwesen ist jedoch während der Ereignisse der Zeitenwende aus dem Sonnenreich herabgestiegen und hat sich mit der Erde verbunden. Die Ziele des modernen Hermetismus sind zwar die gleichen, denn auch jetzt sollen seine Schüler und Schülerinnen auf Erden ihre Seele läutern, so dass sie im Angesicht des „wahren Oben“ bestehen können. Seit dem Ereignis von Golgatha hat sich der Weg zu diesem Ziel aber entsprechend gewandelt. Jetzt, da die „größte aller lebendigen Analogien von Oben und Unten“ in unserer Mitte lebt, kann die Seele schon in der Zeit zwischen Geburt und Tod darauf hinarbeiten, sich – hier auf der Erde – mit dem erhabenen Sonnenwesen zu vereinigen. Das Ziel des modernen christlichen Hermetismus ist es daher, hier auf der Erde einen lebendigen Bezug zu derjenigen Inspirationsgemeinschaft aufzubauen, die um das Zentrum dieser Ich-bin-Wesenheit wirkt.

Die Aufnahme des Hermetismus – oder besser: die Teilnahme am Hermetismus – stellt daher gewisse Voraussetzungen an den Menschen, denn es wird die Realisation einer qualitativen Ähnlichkeit mit diesen Wesen vorausgesetzt, um in deren Nähe treten zu können. Der Hermetist muss deswegen sein Denken, Fühlen und Wollen läutern, so dass er mit Wärme im Herzen und Armut im Wollen als „Bettler um Geist“ von der Gemeinschaft der Geister für würdig befunden und mit lebendigen Wahrheiten beschenkt werden kann. Wer den Hermetismus also tatsächlich verstehen möchte, der muss sich hierfür zuerst reif machen.

An der Tatsache der Notwendigkeit einer Läuterung und Reifung der Persönlichkeit ist erkennbar, dass sich der lebendige Strom des Hermetismus zwar bei uns „unten“ auf der Erde befindet, dass er aber dennoch nicht ohne weiteres Jedermann zugänglich ist. Wer durch Erkenntnisse nicht dem Gang der Menschheit dienen, sondern wer alleine für sich Erkenntnisse ansammeln will, der ist in einem „subjektiven Nebel“ gefangen, welcher die Wahrnehmung verzerrt. Wahrheit im Sinne des Hermetismus besteht nicht in einem „Reichtum an schlauen Meinungen“, sondern in einer „Leerheit vom Subjektiven“, so dass eine unmittelbare Berührung mit dem Objektiven möglich werden kann. Die wahre Wirklichkeit soll nicht im Subjektiven abgebildet werden, sondern das Subjekt strebt an, sich der wahren Wirklichkeit zu öffnen. Erst wer durch Demut, Gehorsam und Liebe seine eigenwillige Sucht nach Erkenntnis zumindest Stellenweise bezwungen hat, dem lichtet sich der Nebel des so genannten luziferischen Lügengürtels und er wird die Hermetik in ihrer unverzerrten Gestalt erkennen können.

Wer in sich in diesem Sinn den Hochmut nicht wenigstens ansatzweise im Griff hat, wird durch den Hermetismus nicht zur Genialität, sondern zur Scharlatanerie geführt. Diese Zweideutigkeit findet sich beispielsweise im Arcanum I. „Der Gaukler“ angedeutet. Der Gaukler ist einerseits der geniale Herzensmensch, der mit Leichtigkeit von der Berührung mit der geistigen Welt getragen wird; aber er kann andererseits auch als Warnung vor uns stehen, wenn wir die Mühen der Läuterung vermeidend über eine falsch verstandene Leichtigkeit ein Scharlatan zu werden drohen.

Sobald der Schüler den hermetischen Strom innerlich berührt hat, wird eben dieser Strom ihn auch beschirmen und leiten. Den aufrichtig Strebenden wird diese Berührung beschenken. Und ein Teil dieses „Geschenkes“ ist es, die eigenen Schwächen klar vor Augen geführt zu bekommen, damit diese geläutert und bearbeitet werden können. Hier liegt es nun am Schüler, ob er dieses Angebot annimmt und an seinen Schwächen und Fehlern arbeitet. Dieselben Gesetze des lebendigen Stromes werden auf verschiedene Strebende – je nach ihrem eigenen Engagement - unterschiedlich wirken. Sehr wichtig ist es daher zu erkennen, dass der Strom der hermetischen Tradition auf diese Weise auf alle Fälle zur Wahrheit führt, es liegt aber in der Freiheit und Verantwortung des Schülers, wie er sich dieser Führung gegenüber verhält.

Die Lebendigkeit des hermetischen Stromes belebt den Schüler zunächst, und belebt hierbei notwendigerweise auch alle dunklen Triebe, die durch diese Belebung überhaupt erst erkennbar werden. Diese Schwächen müssen aber nicht nur erkannt, sondern auch überwunden werden. Die Meditationen zu den Arcana des Taro führen den Schüler also auf alle Fälle zur Wahrheit, wie schnell der Schüler jedoch voranschreitet liegt daran, zu welchem Maß der Selbsterkenntnis er fähig ist.

„Tote“ Weisheiten kann sich der Mensch aneignen und gemäß seiner Willkür benutzen. Der lebendige hermetische Strom wird den Schüler aber berühren und durch das Leben leiten, indem er ihn zu den für sein individuelles Leben notwendigen Erkenntnissen und Ereignissen führt. Die Gedankenformen des Hermetismus bleiben hierbei leer und unbrauchbar, wenn ein Schüler nicht fähig ist, die darin innewohnenden lebendigen Impulse aufzunehmen. Valentin Tomberg nennt diese hermetische Offenheit und Empfänglichkeit im Willen auch Glauben, durch den ein Schüler fähig wird, von Intuitionen berührt zu werden. Und indem ein Mensch hermetische Intuitionen empfangen kann, verbindet er sich mit dem Wirken der hermetischen Geister und wird auf diese Weise Hermetist. Valentin Tomberg drückt das selbst sehr klar aus:

„Er [der Hermetismus] lebt nur von der Intuition und ist ohne sie tot. Und diese tote Angelegenheit erkannten die Vertreter des Glaubens und der Wissenschaft, die aufrichtig staunten, dass es Leute gibt, die sie ernst nehmen. Sie sahen darin nur wissenschaftliches und religiöses Flittergold – oder höchstens einen schwachen Glauben, der sich Krücken von der Wissenschaft leiht, oder auch eine kindliche Wissenschaft, die noch nicht die Unterscheidung gelernt hat zwischen dem, was man glaubt und dem, was man weiß. Und sie täuschen sich nicht: der Hermetismus ist ohne den unsichtbaren Zement der Intuition in der Tat nur eine improvisierte Zusammenfügung heterogener Elemente der Wissenschaft und der Religion.“ (19. Brief, „Die Sonne“; „Meditationen über die Großen Arcana des Taro“, Meisenheim am Glan 1972, S. 430)

Weil die reale Tat und die ihr vorangehende Intuition in der Hermetik so bedeutsam sind, ist die Darstellungsform hermetischer Inhalte primär symbolisch. Es wird weniger versucht, definierte Aspekte isolierter Tatsachen möglichst eindeutig „festzunageln“ (wie dies in der Wissenschaft typischerweise üblich ist), sondern die Komplexität und Vielschichtigkeit der wirklichen, lebendigen Zusammenhänge werden anhand der äußeren Form der Lehren mit dargestellt. Indem komplexe Zusammenhänge auf wesentliche Punkte reduziert symbolisch dargestellt werden, kann der Betrachter – je nach seiner Reife und Situation – ganz unterschiedliche und vielleicht auch kreativ neue Zusammenhänge aus den Symbolen und deren Zusammenstellungen „herauslesen“. Und anhand beispielsweise des genialen Symbolsystems des Taro erlernt der Schüler gewissermaßen ein Alphabet an Symbolen; und er erlernt weiterhin, auch die Zusammenhänge seines eigenen Lebens symbolisch zu betrachten. Auch in Lebenszusammenhängen gibt es viele einfache Situationen, die – je nach Reife und Perspektive – in völlig anderen Weisen verstanden werden können. Aufgrund dieser Analogie von Symbol und Lebenssituation ermöglichen die symbolischen Darstellungen des Hermetismus einen relativ unmittelbaren Bezug zwischen Intuition und Tat.

Worin besteht die Natur einer Intuition und welchen Weg nimmt sie im Leben des Schülers? Manche Menschen haben Angst vor Intuitionen, weil sie so geheimnisvoll und mächtig seien, und weil sie uns zu etwas zwingen könnten, was wir nicht wollen würden. Genau das Gegenteil ist richtig: Intuitionen zwingen nie. Um sie empfangen zu können braucht es einen Bereich innerer Ruhe, in dem ein Schüler einen eintreffenden Impuls als solchen entdecken kann. Die Gefahr, dass ein moderner Mensch in der Unruhe unserer Kultur eine Intuition übersieht oder sogleich wieder vergisst, ist ungleich größer als dass er zu etwas gezwungen wird, was er nicht will. Was den Schüler „zwingt“ sind die dunklen Bestandteile seiner Persönlichkeit, also die ungeläuterten luziferischen und ahrimanischen Eigenschaften in ihm. Aber selbst solche Persönlichkeitsbestandteile zwingen genau genommen zu nichts: Der Schüler, der sich von solchen Impulsen seiner Doppelgänger noch nicht frei gemacht hat, empfindet entsprechende „Einflüsterungen“ aber als Zwang. Durch eine Realisation eines Raumes der inneren Ruhe in der Seele, welche der erste Schritt des Weges des christlichen Hermetismus ist („Konzentration ohne Anstrengung“), hat der Schüler jedoch auch einen ersten Schritt in Richtung Freiheit getan. Sobald ein Schüler innerlich diesen Ruheraum betreten kann, hat er nicht nur Distanz zu den alltäglichen Wirren seines Innenlebens gewonnen, er steht auch frei allen Impulsen gegenüber, die er nun „unbefangen“ beurteilen, aufnehmen oder abweisen kann. Auf der anderen Seite wird jemand, der gelernt hat das Gute zu lieben, wie selbstverständlich dem Guten folgen. Auch eine solche Selbstverständlichkeit ist aber natürlich kein Zwang.

Selbstverständlich gibt es jedoch auch falsch aufgefasste Arten von Intuition. Problematisch kann es werden, wenn ein Schüler die Klarheit des Denkens auf seinem Weg nicht mit einbezieht, und seine Intuitionen und Handlungen nicht zu verstehen versucht. Früher oder später wird sich in diesem Fall eine Einseitigkeit manifestieren, die es auszugleichen gilt. Ein anderes Missverständnis wäre die Meinung, dass der Hermetismus bestimmte Handlungsweisen lehren würde. Der Hermetismus lehrt jedoch nicht festgelegte Inhalte von Handlungen, sondern die Leerheit des Willens. Es ist dann dem Individuum überlassen, seine Aufgaben in der Auseinandersetzung und Umsetzung der ihn berührenden Intuitionen zu gestalten.

Die intuitive Berührung mit einem Impuls, die für den Schüler der Hermetik am Anfang steht, wird durch das I. Arcanum thematisiert („Der Gaukler“). Dies setzt einerseits eine Offenheit des Herzens voraus, um einen solchen Impuls überhaupt wahrnehmen zu können. Des Weiteren ist es aber auch wichtig entscheiden zu können, welche Impulse überhaupt „wahrhaft“ sind und ob es sich lohnt, ihnen zu folgen. Die unmittelbare Berührung des Impulses kann sich also in Form von Erkenntnisklarheit spiegeln (II. Arcanum, „Die Päpstin“). Eine Erkenntnis auf dieser visionären Stufe besitzt aber auch eine unmittelbare Kraft, die zur Handlung motiviert. Das Umsetzen einer entsprechenden Handlung wird durch das III. Arcanum thematisiert („Die Kaiserin“). Sowohl die unmittelbare Berührung, als auch die erste visionäre Erkenntnis, als drittens auch die Umsetzung des Impulses in Taten bringen jeweils Erkenntnisse verschiedener Art mit sich. Denn auch beim Umsetzen einer Intuition in Taten werden die ursprünglichen Impulse immer umfassender verstanden. Wenn ein solches umfassendes Verständnis dann mit den Gedanken und Lehren einer Kultur in Relation gesetzt wird, kann anderen Teilnehmern dieser Kultur die nun umfassend geläuterte Weisheit in Form von hermetischer Philosophie vermittelt werden (IV. Arcanum, „Der Kaiser“).

Diese vier Stufen – spirituelle Berührung, unmittelbare Erkenntnis, magische Handlung und Vermitteln der dreifach erprobten Wahrheiten durch hermetische Philosophie – werden einerseits von einem spirituellen Impuls innerhalb eines einzigen Menschen durchlaufen. Die gleichen vier Stufen können andererseits aber auch Schwerpunkte von Traditionen sein, zu denen sich Menschen zusammenschließen. So gibt es Traditionen, die beispielsweise insbesondere den Kultus oder andere, welche die Philosophie pflegen. Der Kultus entspricht hierbei der hermetischen Stufe der magischen Handlung (III. Arcanum), und die Philosophie der vierten Stufe (IV. Arcanum).

Leider gibt es eine gewisse Tendenz, dass solche Schwerpunkte im Laufe der Zeit aus ihrem organischen Zusammenhang der vier Stufen herausgelöst werden. So hatte beispielsweise schon die griechische „hermetische Philosophie“ (z.B. Philo) den Bezug zu den ersten Stufen verloren. Das dort gepflegte Gedankenleben ist also schon nicht mehr der unmittelbaren und bewussten Berührung der geistigen Welt entsprungen, und die Inhalte der Gedanken wurden auch schon nicht mehr in der Handlung erprobt bevor sie mitgeteilt wurden. Dadurch lassen sich gewisse Einseitigkeiten erklären. In anderen Traditionen wurde beispielsweise die „magische Handlung“ im Sinne eines Kultus gepflegt, ohne jedoch ein lebendiges, geistiges Wissen von deren Bedeutung und der Wirkung der Handlungen zu besitzen (z.B. die Freimaurer). Auch wenn von Menschengruppen („Traditionen“) naturgemäß Schwerpunkte gesetzt werden, der Bezug zu der Gesamtheit der vier Stufen geistigen Lebens muss aufrecht erhalten werden, wenn die Tradition gesund und lebensvoll bleiben soll.

Die wahre und lebendige Tradition des Hermetismus lässt sich also weder über bestimmte Lehrinhalte, noch über Rituale, noch über irgendwelche anderen äußerlichen Merkmale definieren. Ausschlaggebend ist einzig und alleine der innere und lebendige Bezug zum Ursprung der Wahrheit (sowie zur aufrichtigen Umsetzung dieser im Leben). Eine wahrhafte Tradition kann sich nicht auf äußere Kriterien stützen, weil bei der Harmonisierung von „oben“ und „unten“ – also von geistiger und irdischer Wirklichkeit – das „Oben“ den Maßstab abgibt. Sobald etwas Äußerliches („Unteres“) maßgebend wird, begibt sich die betreffende Tradition schon in eine Form der (wenn auch vielleicht subtilen) Dekadenz.

Es ist sehr fruchtbar vor diesem Hintergrund die vielen Gedanken und Werke zu betrachten, wie sie von Rudolf Steiner vor die Öffentlichkeit gestellt wurden. Durch die innere Verbindung Rudolf Steiners zu den Ursprungsimpulsen seiner Mitteilungen, besteht ein lebendiger Bezug zwischen den Gedanken der Vortragsbesucher und den geistigen Quellen. Es ist jedoch aufschlussreich, die gegenwärtig gelebte Verbindung von Gedanken zu ihren geistigen Ursprüngen zu untersuchen. Denn etwa 100 Jahre nach Rudolf Steiner haben sich oft sogar ganze Gruppen von „bequemen Gleichgesinnten“ zusammengeschlossen, um nicht das Geistige – also die Inhalte der Geisteswissenschaft – zu studieren, sondern die Darstellungen von und Meinungen über das wirkliche Geistige. Das Ziel der Bestrebungen ist damit von der geistigen Realität selbst herabgesunken zum Denken über das Geistige. Entsprechend steht auch nicht mehr die Läuterung des Denkens im Mittelpunkt des Bemühens, sondern eher ein Entfalten der ungeläuterten Fähigkeit des alltäglichen Denkens.

Diese Verschiebung wird äußerlich erkennbar, wenn von den Entscheidungsträgern nicht eigene, bewusstseinsklare Beobachtung – also esoterische, geistige Forschung –, sondern das Zitieren von Büchern zur Begründung von Wahrheit herangezogen und gefordert wird.

In dem Maße, wie nicht die Wirklichkeit, sondern eine beschränkte Anzahl von Büchern der – zugegebenermaßen großartigen – Gesamtausgabe als Ursprung des Geisteslebens angesehen wird, ist die Geisteswissenschaft aus dem lebendigen Strom der Wahrheit heraus gefallen. Ohne einen kontinuierlichen Bezug zu den Bedeutungen und Ursprüngen der Mitteilungen von Rudolf Steiner geht diese Verbindung verloren und die gleichen, vorher erhabenen Weisheiten, werden zu toten Weisheitssplittern, in denen sich schließlich nur noch die Eitelkeiten ihrer „Jongleure“ spiegeln.

Tatsächlich besteht das eigentliche Ziel der Geisteswissenschaft darin, Gedanken- und Kulturformen zu schaffen, die geistgemäß sind. Rudolf Steiners Ziel bestand und besteht darin, die Zusammenhänge des physisch-sinnlichen so zu gestalten, dass sie dem Blick beispielsweise der erhabenen Sonnenwesen standhalten können. Das „Unten“ der modernen Kultur soll also analog dem „Oben“ gestaltet werden. In diesem Sinne ist die Geisteswissenschaft hermetisch.

Im ersten Schritt der Verwandlung der Erde durch die Kultur gilt es, das „harte“ Physische wieder im „flüssigen“ Prozess des Lebens zu lösen, ähnlich wie sich Salz in Wasser löst. Die alchemistische Verwandlung des „Unten“ kann also nicht durch etwas erfolgen, was selbst – im gegenwärtigen Sinn – Wissenschaft oder Kunst ist: Salz kann mit noch so viel Salz gemischt werden, es wird „hart und eckig“ bleiben. Es braucht den Rückgriff auf den Samen bzw. die ursprüngliche Quelle. Und der noch flüssige Ursprung der menschlichen Wissenschaften und Künste liegt im alten Ägypten, wobei der große Hermes Trismegistos der Inspirator dieses Ursprungs ist. Die ägyptische Weisheit führt aus diesem Grund zum Kern und zur Quelle der Verwandlung menschlicher Wissenschaften und Künste.

Der Taro ist nun eine Wiedergeburt alter ägyptischer Weisheit. Es ist damit keine „lineare Überlieferung“, sondern ein „transformiertes Wiederauftauchen“ dieser. Valentin Tomberg hat das organische System des Taro wieder ergriffen und in tiefer Weise insbesondere mit dem Sohnes-Aspekt verbunden. Durch das Leben der Arcana des Taro wird der Schüler an die Seele oder den Herzschlag aller menschlichen Wissenschaft und Kunst geführt, ohne dass jedoch der Hermetismus selbst Wissenschaft oder Kunst ist. Durch die lebendige Teilnahme an den gemeinsamen Bemühungen der hermetischen Tradition kann ein Schüler nach folgendem Motto leben:

 „Was oben ist, sei wie das, was unten ist, und was unten ist, sei wie das, was oben ist“ (V. Brief, „Der Papst“, a.a.O., S. 93).

II. Die Arcana als Vermittler zum hermetischen Strom

Der Schüler der Hermetik wird nach seinem Eintauchen in den hermetischen Strom durch die dort wirkenden Geister geführt, wenn sein Willensleben entsprechend geläutert ist. Die „Vermittlungsplattform“ hierzu sind primär die zweiundzwanzig großen Arcana des Taro. Diese Arcana werden durch Bilder, durch Zahlenwerte, durch das hebräische Alphabet und durch Erläuterungen zugänglich gemacht. Die Arcana selbst sind aber weder Bilder noch Erläuterungen, sondern grob gesagt „innere Kräftezusammenhänge“ mit denen man üben und an denen der Schüler sein Innenleben gestalten und erziehen kann. Die Auseinandersetzung mit dem Taro spricht – richtig verstanden – nicht nur das bildhafte und verstandesmäßige Denken an, sondern auch das Fühlen und ganz besonders auch das Wollen. In seinem Vorwort zu den „Meditationen über die Großen Arcana des Taro“ schreibt Valentin Tomberg:

„Im Grunde sind es [d.h. die 22 Großen Arcana des Taro] zweiundzwanzig geistige Übungen, mittels derer Sie, lieber unbekannter Freund, sich in den Strom der lebendigen Tradition versenken und damit eintreten können in die Gemeinschaft der Geister, die ihm gedient haben, und die ihm dienen.“ („Vorwort“; „Meditationen über die Großen Arcana des Taro“, Meisenheim am Glan 1972)

Doch ähnlich wie die Frage nach der hermetischen Tradition, ist – genau genommen – auch die Frage nach den Arcana des Taro nicht leicht zu beantworten. Der Grund hierfür liegt darin, dass man die Arcana eigentlich erst dann versteht, wenn man sie erlebt. Die Arcana sind weder Allegorien im Sinne bildlicher Darstellungen abstrakter Begriffe, noch sind es Geheimnisse im Sinne von Tatsachen, die aus persönlichen Gründen verhüllt werden:

„Die Großen Arcana des Taro sind echte Symbole. Sie verbergen und enthüllen gleichzeitig ihren Sinn, entsprechend der Tiefe der Sammlung des Meditierenden“ (1. Brief, „Der Gaukler“, a.a.O., S. 1).

Diese geheimnisvolle Erläuterung deutet an, dass Arcana eigentlich nicht unmittelbar zugänglich sind, denn sie enthüllen ihren Sinn entsprechend der Tiefe der Meditation. Der „Konsument bequemer Wahrheiten“ wird durch die Arcana nicht befriedigt werden können, denn es sind Voraussetzungen notwendig, um zu ihnen Zugang zu finden. Es reicht weder die sprachlichen Erläuterungen zu lesen und darüber nachzudenken, noch reicht es die Abbildungen zu betrachten. Beides muss im Zustand meditativer Sammlung geschehen, damit im Leser bzw. Betrachter durch dessen innere Vertiefung ein Bezug zu dem verborgenen – d.h. im Hermetischen sich befindlichen – Strom der lebendigen Tradition hergestellt werden kann. Gedanken oder Betrachtungen, die nicht im Zustand meditativer Sammlung vollzogen werden, sind NICHT hermetisch, selbst wenn sie von einem als „hermetisch“ bezeichneten Autor vermittelt werden. Der Hermetismus ist eine lebendige Gemeinschaft von Geistern und wenn der Leser hermetischer Texte „kein Interesse“ an einer lebendigen Beziehung zum Strom der Wahrheit hat, dann sind auch seine Gedanken nicht die eines Hermetisten, sondern er gleicht einem Affen, der verständnislos die Bewegungen seines Wärters imitiert.

Als Voraussetzung und erster Schritt zum Herstellen einer klaren und lebendigen Beziehung zu den Arcana – und diese „klare und lebendige Beziehung“ ist wiederum die Voraussetzung für ein wahrhaftes Verständnis der Arcana – wird im Brief zum ersten Arcanum „Der Gaukler“ Konzentration ohne Anstrengung genannt. Konzentration ist Ruhe; und Ruhe entsteht, wenn die willkürlichen seelisch-astralischen Bewegungen von Denken, Fühlen und Wollen schweigen. Der endlose  „Affentanz“ unserer Gedanken- und Gefühlsbewegungen muss wenigstens innerhalb eines beschränkten inneren Bereichs für einen bestimmten Zeitraum innehalten. In diesem Leerraum entsteht wahrhafte Freiheit, weil wir in diesem Raum nicht der „instinktiven Willkür“ ausgeliefert sind, sondern diesen Freiraum bewusst und aktiv gestalten können. Wenn von Konzentration gesprochen wird, ist angedeutet, dass diese Ruhe von den Gedanken ausgeht, die der Schüler zunächst am leichtesten unter Kontrolle bringen kann. Und wenn sich diese Ruhe im Körper ausbreitet, d.h. wenn sie den Hals hinunter über Brust und Herz in den Körper strömt, gleicht diese Bewegung einem Trinken der inneren Ruhe.

„Haben Sie schon manchmal Schweigen getrunken? Wenn Sie es bejahen können, wissen Sie, was Konzentration ohne Anstrengung ist“ (1. Brief, „Der Gaukler“, a.a.O., S. 7).

Dieser Raum innerer Ruhe ist der „erste Zipfel“ unseres Astralleibes, den wir durch unser Ich zur meditativen Arbeit ergreifen können; es ist der Raum, in dem sich uns die Arcana öffnen. Während der ersten Zeit der Übung wird ein solcher Raum innerer Freiheit nur so lange andauern wie wir uns Mühe geben, konzentriert zu bleiben. Im Laufe der Zeit stellt er sich immer leichter ein, bis er ein selbstverständlicher Teil von uns wird. Tibetische Mönche geben als Richtwert zum Erreichen einer solchen spontanen inneren Ruhe für einen fleißigen und begabten Schüler etwa zwei Jahre an.

In dem Maße, in dem die willkürlichen, inneren Bewegungen schweigen, sind wir selbstlos, weil diese Bewegungen innerhalb von diesem Raum keine Gewalt mehr über uns haben. Sobald ein Schüler also bewusst in der Lage ist, diesen Raum des Schweigens aktiv innerlich zu gestalten, ohne die Ruhe durch seine wieder aufgenommene Aktivität zu stören, wird seine Betrachtung der Arcana zu etwas anderem als es vorher war. Denn die Selbstlosigkeit seines Astralleibes ist die Grundlage, dass der Strebende bei der Betrachtung der Arcana diese nicht von seinem alltäglichen, subjektiven Standpunkt aus betrachtet, sondern sich bei der Auseinandersetzung ergreifen und verändern lässt. Erkennen heißt Zusammenfließen.

Die Schritte des Zusammenfließens hängen von den Fähigkeiten und Herangehensweisen des Schülers ab, sie könnten aber folgendermaßen ausschauen: Zunächst werden parallel zueinander die bildlichen Darstellungen und die sprachlichen Erläuterung der Arcana meditativ betrachtet und durchdacht. Der Schüler versucht hierbei nicht nur gedankliches Verständnis zu erarbeiten, sondern „ertastet“ auch, wie sich die Inhalte und die bildlichen Darstellungen anfühlen. Der Zusammenhang des Bildes in Kombination mit der fein verzweigten Sinnstruktur der Erläuterungen wird dem Übenden Schritt für Schritt gleichsam zu einem Wald, in dem er sich meditierend bewegt. Über Arcana nachdenken heißt nicht, Gedankenbilder zu puzzeln, sondern im Zustand innerer Ruhe durch den gefühlten Sinnzusammenhang streifen. Auf diese Weise entfaltet der Schüler innerlich seine Version des Arcanums und wenn er offen und „ein Bettler um Geist“ ist, wird er auf irgendeine Weise die Führung des Arcanums erleben. Er wird in seinem Astralleib selbst zu diesem Arcanum und nimmt eine bestimmte innere Geste ein, welche diese Führung ermöglicht. Der Strebende lernt so beispielsweise selbst als „Gaukler“ im Leben zu stehen: Indem sich der innere Raum spontaner meditativer Ruhe im Körper ausbreitet, kann beispielsweise erlebt werden, wie alle Taten tatsächlich nicht durch den Handelnden selbst getragen werden müssen, sondern von der „Gravitation von oben“ mitgetragen werden. Der Schüler erlebt so beispielsweise die Leichtigkeit, mit der er als „Gaukler“ alle Taten vollbringt. Und die Resultate seiner Handlungen im Leben werden ihn lehren, wie gut seine Konzentration beschaffen ist, und ob er demnach eher ein „Scharlatan“ oder ein „Gaukler im erhabenen Sinne“ ist. Wenn im Laufe der Zeit dann immer mehr Arcana auf diese Weise für den Schüler spontan lebendig werden, wird ihn die Konstellation der Arcana immer umfassender leiten können.

Es ist sehr wichtig zu sehen, dass die Ereignisse des äußeren Lebens ebenso Bestandteil der Schule des Hermetismus sind wie die Vermittlungsplattform der Arcana. Im genannten Beispiel ist leicht ersichtlich, dass der Schüler seine Mängel der Konzentration im Leben so lange vorgeführt bekommt, bis er sie behoben hat. Wenn der Schüler nun denken würde, dass ihn die Kritik seiner Konzentrationsfähigkeit nicht treffen kann, weil er doch ein „solch erhabener Hermetiker“ ist, dann wird er mehr und mehr zu einem „absonderlichen Scharlatan“. Wenn jedoch auch die Schule des äußeren Lebens mit in den Weg einbezogen wird, besteht in der Schule des Lebens eine zuverlässige Stütze, welche den Schüler zum Ziel leitet.

Mit diesen Erläuterungen ist der oben zitierte Satz (siehe S. 17) gar nicht mehr so geheimnisvoll wie er zunächst vielleicht erschien: Die Großen Arcana des Taro sind echte Symbole, weil der Schüler selbst die Formen und Gestaltungen der Arcana einnimmt, und weil er durch sie und anhand von ihnen die Anregung und Führung der Gemeinschaft der Geister erhält. Und die Arcana verbergen und enthüllen gleichzeitig, je nach der Tiefe der Sammlung des Meditierenden, weil dem Schüler je nach seiner Konstitution verschiedene Aspekte klar werden und andere Aspekte verborgen bleiben. Es enthüllt sich immer nur eine von vielen möglichen Bedeutungen. So entsteht die geniale Flexibilität des Organismus des Taro.

Wenn ein Schüler des Hermetismus auf diese Weise über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg mit verschiedenen Arcana lebt, dann gestaltet und läutert er seinen Astralleib in einer bestimmten Weise. Die zweiundzwanzig Arcana bilden hierbei mit einer gewissen Notwendigkeit eine organische, systematische Einheit. Im zwölften Brief erläutert Valentin Tomberg die Zahl 22, wobei sie sich aus der „Summe der Zahlen der Wirklichkeit“ – nämlich eins, drei, sieben und zwölf – zusammensetzt, welche zweiundzwanzig ergibt, wenn man die eins als übergeordnete, die anderen Zahlen umfassende Einheit auffasst. Die Zwölf entspricht hierbei beispielsweise dem makrokosmischen Aspekt des Tierkreises, während die Sieben den menschlichen sieben Chakren zugeordnet werden kann. In allem spiegelt sich jedoch in vielfältiger Weise die ursprüngliche Trinität, und alles wird durch die allumfassende Einheit verbunden, die nicht neben der Vielfalt besteht, sondern diese beinhaltet.

Die zweiundzwanzig Arcana sind aber keine „formallogische Reihe“ oder „mathematische Summe“, sondern die organische Einheit der Arcana enthält auch allerhand Querverweise, Rhythmen, Spiegelungen, innere Spannungsverhältnisse, Warnungen und auch degenerative Aspekte. Durch das Erleben der Arcana und das immer tiefere Befragen der Zusammenhänge, die sie dem Suchenden vermitteln, wird dieser immer wieder „beunruhigt“ und zu immer neuen Tiefen geführt. Die Arcana sind deswegen keine Sammlung „auf Hochglanz polierter starrer Zusammenhänge“, sondern ein äußerst vielschichtiges, bewegliches und aus Gegensätzen bestehendes – und damit lebensvolles – Geflecht.

III. Die Erfahrung bewussten Lebens

Die Umwandlung des Denkens ist auf dem hermetischen Schulungsweg natürlich ein wichtiger Punkt, weil sich im Denken Keime zu Handlungen finden. Entscheidend ist hierbei zwar auch das Entfalten des (meditativen) Nachdenkens über die Erläuterungen zu den Arcana, viel wichtiger ist aber die alchemistische Transformation des Denkens selbst durch dessen Kreuzigung. Die Bilder und Erläuterungen führen das Denken zu bestimmten Inhalten und auf diese soll es sich konzentrieren. Die Tätigkeit des Denkens wird also in der Konzentration gehemmt, um durch diese Hemmung das Höhere – nämlich die Fähigkeit der Imagination – zu ermöglichen. Dieses Opfer des Denkens führt zu der Fähigkeit des „Übe Geisterschauen in Gedankenruhe“, wie es in der dritten Strophe der so genannten Grundsteinmeditation von Rudolf Steiner heißt. Durch die Ruhe – also die Hemmung der Eigenbewegung – wird das Innenleben des Schülers in die Lage geführt, die „Bewegungen der Wahrheit“ in sich aufzunehmen. Nachdem das Denken leer geworden ist – der Eigenintellekt also geopfert wurde – kann der Schüler als Bettler um Geist am lebenden, hermetischen Gedankenstrom und dessen weisheitsvoller Führung teilnehmen.

Eine solche Kreuzigung des Denkens ist eine typisch rosenkreuzerische Figur. Das Niedere – nämlich das alltägliche Denken – wird gehemmt, um die höhere Fähigkeit der Imagination erblühen zu lassen. Der Taro liegt hier ganz auf der Linie des Buches „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“, das Rudolf Steiner auch als „rosenkreuzerisches System“ bezeichnet hat:

„Zu betonen ist, dass der Geheimforscher sich nicht in ein Nachsinnen verlieren soll, was dieses oder jenes Ding bedeutet. Durch solche Verstandesarbeit bringt er sich nur von dem rechten Wege ab. […] Was die Dinge bedeuten, das soll nicht er mit spekulierendem Verstande ausmachen wollen, sondern er soll es sich von den Dingen selbst sagen lassen“ (GA 10, S. 46-47).

Hier ist es nun notwendig anzuerkennen, dass die „Dinge selbst“ nicht die Inhalte von Sinneswahrnehmungen, sondern geistige Wahrheiten jenseits der Schwelle sind. „Verstandesarbeit“ bezieht sich immer auf positive Inhalte diesseits der Schwelle, die „Dinge selbst“ beginnen aber erst zu sprechen, wenn das Bewusstsein sich von allen diesseitigen Inhalten frei gemacht hat. Rudolf Steiner spricht in diesem Zitat also in abstrakteren Worten ebenfalls von der Kreuzigung des Denkens.

Die Bilder und Erläuterungen des Taro sind daher keine Lehren, die es zu lernen, zu bezeugen oder zu zitieren gilt, sondern der Organismus der 22 Arcana bietet eine Führung unmittelbar zu den rosenkreuzerischen Quellen der Weisheit selbst. Tomberg schreibt:

„Die Symbole sind also keine Instrumente des Gedankens, sondern vielmehr seine Führer und seine aktiven Meister, ganz wie das ‚Symbol des Glaubens’, das christliche Credo, kein Instrument des Gedankens ist, sondern vielmehr eine Sternenkonstellation hoch über dem Haupte“ (16. Brief, „Das Gott-Haus“; Meditationen über die Großen Arcana des Taro, Meisenheim am Glan 1972, S. 363).

Wozu führt den Schüler die „Sternenkonstellation der Arcana“? Indem der Astralleib so gestaltet wird, dass er „sonnenkompatibel“ wird, kann der Astralleib das Sonnenhafte des Menschen in sich aufnehmen. Und weil das dem Menschen zunächst am nächsten liegende Sonnenhafte sein höheres Ich ist, harmonisiert sich durch die Führung der Sternenkonstellation der Arcana das „obere“ und das „untere“ Ich. Wie durch zwei Augen lernt der Mensch die Analogie der Eindrücke seines unteren im Zusammenhang mit seinem höheren Ich zu betrachten. Dieser Zusammenhang kann jedoch nur durch einen – zumindest teilweise – geläuterten Astralleib hergestellt werden, in den sich das höhere Ich abdrücken kann. Und für das angemessene Verhältnis von oben und unten gibt es ein Ideal, das einst den Menschen vorgelebt wurde. Nachdem sich der Mensch so geläutert hat, dass er einen Bezug zu seinem höheren Ich errungen hat, kann er über eben diesen neuen Bezugspunkt Teil des hermetischen Stromes werden. Was nun über diesen höheren Standpunkt zu ihm fließt, kann er in der Geste der Fußwaschung in den Dienst der Situationen stellen, die ihm im Leben begegnen.

Und wie der Schüler des Hermetismus innerlich die rechte Haltung zum hermetischen Strom finden und einnehmen soll, indem er beispielsweise demutsvoll sein Denken durch dessen Kreuzigung alchemistisch transformiert, so muss der Schüler auch äußerlich das rechte Verhältnis zu den Ereignissen seines Lebens finden. Auch hier findet sich als Vorbild und Maßstab die Passionsstufe der Fußwaschung mit ihren Intensivierungen bis hin zur Kreuzigung und weiter. Der moderne Hermetismus leitet den Schüler in dieser Weise, um am Licht und der Wärme der erhabenen Ich-bin-Wesenheit teilzuhaben. Und nur wer dieser Führung auch folgt, wird tatsächlich im Hermetismus etwas Wertvolles finden:

„Es genügt auf folgende Analogie hinzuweisen: es war nicht das Stroh der Krippe, noch waren es die Tiere, die sich dort anwesend fanden, die die Magier aus dem Morgenland führten und das Kind finden ließen, sondern vielmehr der Stern am Himmel. Ebenso wird man im Hermetismus nur Stroh und die Tiere finden, wenn man nicht von seinem Stern geführt wird, der nur in der Intuition besteht“ (19. Brief, „Die Sonne“; a.a.O., S. 430-431).

Der christliche Hermetismus bietet also eine innere Führung über die Intuition. Um zum „Kind“ geführt zu werden – und nicht zu abstraktem Gedankenleben und ungereinigten Gefühlen (d.h. zu „Stroh und Tieren“) – ist eine beständige Läuterung des Willenslebens notwendig. Sowohl das Wollen des Denkens, als auch das Wollen des Fühlens als auch der Willen selbst müssen sich also beständig bemühen, sich der Führung des Hermetismus würdig zu erweisen. Wenn die verschiedenen Aspekte des Willens „arm“ und leer geworden sind, kann der Schüler nicht nur die Führung des Taro aufnehmen, sondern er findet auch in den Ereignissen des Lebens eine Stütze und ein Schulungsmittel für seinen Weg. Ein solcher Schüler des Hermetismus wird dann auch einen Beitrag leisten können, die menschlichen Wissenschaften und die Kunst so zu transformieren, dass schließlich auch die Kultur – und letztlich auch die gesamte Erde – wieder dem „sonnenhaften Oben“ entgegentreten kann. Und der Garant dafür, dass die innere Führung, wie sie sich durch das Studium des Taro einstellt, harmonisch mit den äußeren Prüfungen des Lebens zusammenwirkt, ist diejenige Wesenheit, die vor rund 2000 Jahren das „Oben“ und das „Unten“ verbunden hat. Ohne sich einer Führung von dem Strom zu öffnen, der von dieser Wesenheit ausgeht, wird das Bewusstsein  letztlich ohne Leben bleiben, und das Leben wird nicht von Bewusstseinsklarheit durchdrungen werden können.

Die Verbindung des von Bewusstsein durchdrungenen Seelischen und der sich im Physischen abdrückenden Ereignisse des Lebens vollzieht sich also in dem dazwischen liegenden Ätherischen. Nach dem sonnenhaften Gestalten des Astralleibes, der inneren Führung durch die Teilnahme am lebendigen Strom des Hermetismus und den Lektionen des äußeren Lebens besteht das Ziel der hermetischen Bemühungen darin, eine umfassende Beziehung zu dem sonnenhaft durchstrahlten ätherischen Leben zu finden. Der Hermetismus lehrt jedoch keine festgelegten Vorstellungen über dieses bewusstseinsklare Leben, er lehrt die vielschichtige, unmittelbare und lebendige Erfahrung.

Ostern 2008
 

 

Dr. phil. Sebastian Niklaus studierte Philosophie, Religionswissenschaft, Psychologie und Betriebswirtschaft in München, Wien und Hagen. Zentrale Themen waren zunächst Erkenntnistheorie, Gehirnforschung und tibetischer Buddhismus. In seiner Promotion im Rahmen eines Graduiertenkollegs arbeitete er hierbei an der Klärung des Übergangs von einer quantitativen zu einer qualitativen Betrachtungsweise der Wirklichkeit, wie er sie sich durch sein Studium von Rudolf Steiner und Valentin Tomberg angeeignet hat. Nach seiner Tätigkeit an einem Gymnasium ist er zurzeit Mitarbeiter eines Unternehmens in der Schweiz, wo er unter anderem an der Gestaltung sozialer Zusammenhänge arbeitet.

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