Was ist Hermetismus?

Diese ursprünglichen Wissenschaften und Künste haben sich zwar durch eine Beschäftigung mit der physisch-sinnlichen Welt herangebildet, die „Gesetze des hinter ihr stehenden Geistigen“ sind jedoch das eigentliche Ziel des Strebens. Die damaligen Menschen konnten durch eine entsprechende Beschäftigung mit der physisch-sinnlichen Welt ihre Seele so erziehen, dass sie ihre Seele für die nachtodliche geistige Welt vorbereiteten. In den Worten Rudolf Steiners:

„So konnte ihm [d.h. dem altägyptischen Volk] die geistige Welt nicht als diejenige gelehrt werden, in welche es sich auf der Erde einleben konnte. Dafür aber konnte ihm gezeigt werden, wie der Mensch im leibfreien Zustande nach dem Tode leben werde mit der Welt der Geister, welche während der Erdenzeit durch ihren Abdruck in dem Reiche des Sinnlich-Physischen erscheinen. Hermes lehrte: insoweit der Mensch seine Kräfte auf der Erde dazu verwendet, um in dieser nach den Absichten der geistigen Mächte zu wirken, macht er sich fähig, nach dem Tode mit diesen Mächten vereinigt zu sein“ („Geheimwissenschaft im Umriss“ GA 13, S. 284).

Der ursprüngliche Impuls aller menschlichen Wissenschaften und der künstlerischen Arbeit ist also ein geistiger und zielt darauf ab, in einer Bearbeitung der sinnlich-physischen Welt für die Seele Kräfte zu gewinnen, durch welche sie sich nach Ablauf des Erdenlebens auf eine „harmonische Weise“ mit der geistigen Welt verbinden konnte. Der Impuls der altägyptischen Hermetik liegt also „oben“, wobei die Seelen „unten“ lernen sollen, sich in Analogie des „Oben“ zu formen, um sich schließlich wieder mit dem diesem zu verbinden.

Hermes konnte diese Analogie von „Oben“ und „Unten“ lehren, weil er sowohl die Welt „oben“ als auch die Welt „unten“, sowie drittens auch die Relation beider zueinander wahrzunehmen fähig war. Das Kultivieren einer lebendigen Analogie von Erde und geistiger Welt ist für die damalige Zeit eine besondere Fähigkeit, aus der heraus der legendäre Hermes Trismegistos seine Schüler leitete. Vor dem Ereignis von Golgatha war zwar die endgültige Einheit von „Oben“ und „Unten“ noch nicht hergestellt, über lebendige Analogien wurde eine solche Verbindung aber in seiner Realisation vorbereitet.

Die Schüler des großen Hermes hatten ihre seelischen Kräfte des Denken, Fühlen und Wollens auf der Erde so zu läutern und zu gestalten, dass sie sich nach dem Tode mit dem Sonnenwesen vereinigen konnten. Dieses Sonnenwesen ist jedoch während der Ereignisse der Zeitenwende aus dem Sonnenreich herabgestiegen und hat sich mit der Erde verbunden. Die Ziele des modernen Hermetismus sind zwar die gleichen, denn auch jetzt sollen seine Schüler und Schülerinnen auf Erden ihre Seele läutern, so dass sie im Angesicht des „wahren Oben“ bestehen können. Seit dem Ereignis von Golgatha hat sich der Weg zu diesem Ziel aber entsprechend gewandelt. Jetzt, da die „größte aller lebendigen Analogien von Oben und Unten“ in unserer Mitte lebt, kann die Seele schon in der Zeit zwischen Geburt und Tod darauf hinarbeiten, sich – hier auf der Erde – mit dem erhabenen Sonnenwesen zu vereinigen. Das Ziel des modernen christlichen Hermetismus ist es daher, hier auf der Erde einen lebendigen Bezug zu derjenigen Inspirationsgemeinschaft aufzubauen, die um das Zentrum dieser Ich-bin-Wesenheit wirkt.

Die Aufnahme des Hermetismus – oder besser: die Teilnahme am Hermetismus – stellt daher gewisse Voraussetzungen an den Menschen, denn es wird die Realisation einer qualitativen Ähnlichkeit mit diesen Wesen vorausgesetzt, um in deren Nähe treten zu können. Der Hermetist muss deswegen sein Denken, Fühlen und Wollen läutern, so dass er mit Wärme im Herzen und Armut im Wollen als „Bettler um Geist“ von der Gemeinschaft der Geister für würdig befunden und mit lebendigen Wahrheiten beschenkt werden kann. Wer den Hermetismus also tatsächlich verstehen möchte, der muss sich hierfür zuerst reif machen.